Der neue EU AI Act stellt Unternehmen vor eine zentrale Herausforderung, denn Artikel 4 verpflichtet sie, ausreichende KI-Kompetenzen bei Mitarbeitenden sicherzustellen. Viele Unternehmen sehen sich mit grundlegenden Fragen konfrontiert: Welche KI-Kompetenzen sind wirklich notwendig? Wie lässt sich das komplexe KI-Ökosystem strukturieren? Und vor allem: Welche Fähigkeiten sollten intern aufgebaut und wo ist externe Expertise sinnvoll?
Die systematische Entwicklung dieser Fähigkeiten wird durch die verpflichtende Einführung von KI-Kompetenzen im Rahmen des EU AI Act zur strategischen Aufgabe. Unternehmen benötigen einen strukturierten Überblick über die verschiedenen Kompetenzstufen – von der einfachen Nutzung vorgefertigter KI-Tools bis hin zur Entwicklung autonomer Systeme. Diese Orientierung ist entscheidend, um eine fundierte KI-Strategie zu entwickeln und die richtigen Make-or-Buy-Entscheidungen für den systematischen Aufbau der benötigten Kompetenzen zu treffen.
Das 7-Ebenen-Modell der KI-Kompetenzen
Die erfolgreiche Implementierung von KI-Technologien erfordert aufeinander aufbauende Kompetenzen. Jede Ebene erweitert dabei die Möglichkeiten der vorherigen und ermöglicht eine effektivere Nutzung von KI-Systemen. Das folgende Modell zeigt die sieben Ebenen der KI-Kompetenz:
Ebene 1: Toolbasierte Anwendung (Grundlagen der KI-Nutzung)
Ebene 2: Prompt-Engineering (Optimierung der KI-Interaktion)
Ebene 3: Low-Code und CustomGPTs (Automatisierung von KI-Prozessen)
Ebene 4: Systemintegration (Einbindung in Unternehmenssysteme)
Ebene 5: Domänenspezifisches Fine-Tuning (Spezialisierung der KI)
Ebene 6: KI-Entwicklung (Eigene KI-Lösungen)
Ebene 7: Autonome Systeme (Selbstlernende KI-Ökosysteme)
Ebene 1: Toolbasierte Anwendung
Der Einstieg in die KI-Nutzung erfolgt durch das Verständnis und die Anwendung fertiger KI-Tools. Ein grundlegendes KI-Verständnis ist dabei von entscheidender Bedeutung, um qualitativ hochwertige Ergebnisse zu erzielen und typische Anfängerfehler zu vermeiden.
Praxisbeispiele:
- Erstellung von Marketing-Texten mit Mistral
- Gezielte Bildgenerierung mit FLUX
- Systematische Verarbeitung von Kundenanfragen
- Transkription und Zusammenfassung von Meetings
Anforderungen: ⭐
- Grundlegendes Verständnis von KI-Möglichkeiten und -Grenzen
- Kenntnis der wichtigsten KI-Tools und ihrer Einsatzgebiete
- Bewusstsein für Datenschutz und Qualitätskontrolle
Ebene 2: Prompt-Engineering
In dieser Ebene wird die grundlegende Kompetenz vermittelt, KI-Systeme effektiv zu steuern. Die in diesem Kurs erlernten Fähigkeiten sind die Grundlage für alle weiteren Lerninhalte und bestimmen maßgeblich die Qualität der KI-Ergebnisse – von der einfachen Anfrage bis zum komplexen KI-System.
Praxisbeispiele:
- Entwicklung wiederverwendbarer Prompt-Templates
- Strukturierte Analyse komplexer Dokumente
- Integration von Unternehmenskontext in Anfragen
- Systematische Qualitätskontrolle der KI-Ausgaben
Anforderungen: ⭐⭐
- Vertieftes Verständnis der KI-Funktionsweise
- Fähigkeit zur strukturierten Anfrageentwicklung
- Erfahrung in der Qualitätssicherung von KI-Outputs
Ebene 3: Low-Code und CustomGPTs
Auf dieser Ebene werden die Prompt-Engineering-Kenntnisse genutzt, um dauerhafte KI-Lösungen zu erstellen. Durch visuelle Entwicklungsumgebungen entstehen automatisierte Workflows und spezialisierte KI-Assistenten, die wiederkehrende Aufgaben standardisiert ausführen.
Praxisbeispiele:
- Entwicklung spezialisierter KI-Assistenten für Fachabteilungen
- Automatisierung von Dokumentenverarbeitung
- Integration verschiedener KI-Tools in Arbeitsprozesse
- Erstellung branchenspezifischer Workflows
Anforderungen: ⭐⭐⭐
- Verständnis von Workflow-Automatisierung
- Grundlegendes technisches Prozessverständnis
- Erfahrung mit Low-Code Plattformen
Ebene 4: Systemintegration
In diesem Bereich erfolgt die fachkundige Einbindung von KI-Systemen in die vorhandene IT-Infrastruktur. Der Schwerpunkt liegt auf der reibungslosen Verbindung von KI-Funktionen mit Unternehmenssoftware und Datenbanken.
Praxisbeispiele:
- Integration von KI in CRM- und ERP-Systeme
- Aufbau automatisierter Datenverarbeitungspipelines
- Entwicklung KI-gestützter Schnittstellen
- Implementierung von Sicherheits- und Compliance-Mechanismen
Anforderungen: ⭐⭐⭐⭐
- Fundierte IT-Systemkenntnisse
- API- und Datenbankexpertise
- Verständnis für Systemarchitektur
Ebene 5: Domänenspezifisches Fine-Tuning
In dieser Ebene geht es um die Anpassung bestehender KI-Modelle an die spezifischen Anforderungen eines Unternehmens. Vorhandene KI-Systeme werden mit Unternehmensdaten trainiert und optimiert.
Praxisbeispiele:
- Training von Sprachmodellen mit Fachterminologie
- Optimierung von KI für branchenspezifische Aufgaben
- Entwicklung spezialisierter KI-Analysemodelle
- Anpassung von KI-Systemen an Unternehmensrichtlinien
Anforderungen: ⭐⭐⭐⭐
- Expertise in Machine Learning
- Erfahrung mit Modelltraining
- Tiefes Verständnis der Fachdomäne
Ebene 6: KI-Entwicklung
Auf dieser Ebene werden eigenständige KI-Lösungen entwickelt, die spezifische Geschäftsanforderungen adressieren und nicht durch bestehende Systeme abgedeckt werden können.
Praxisbeispiele:
- Entwicklung maßgeschneiderter KI-Algorithmen
- Erstellung spezialisierter Machine Learning Modelle
- Implementation von KI-gesteuerten Entscheidungssystemen
- Entwicklung hybrider KI-Architekturen
Anforderungen: ⭐⭐⭐⭐⭐
- Umfassende KI-Entwicklungsexpertise
- Tiefgreifende Programmierkenntnisse
- Erfahrung in der Systemarchitektur
Ebene 7: Autonome Systeme
Die höchste Entwicklungsstufe umfasst die Schaffung selbstlernender KI-Ökosysteme, die eigenständig Entscheidungen treffen und sich kontinuierlich verbessern können.
Praxisbeispiele:
- Entwicklung selbstoptimierender Produktionssysteme
- Implementation von KI-gesteuerten Handelssystemen
- Aufbau autonomer Logistiknetzwerke
- Erstellung adaptiver KI-Sicherheitssysteme
Anforderungen: ⭐⭐⭐⭐⭐
- Forschungsniveau in KI-Entwicklung
- Expertise in verteilten Systemen
- Tiefgreifendes Verständnis von Reinforcement Learning
Make-or-Buy: Strategische Entscheidungen für jede Kompetenzebene
Die Entscheidung zwischen Eigenentwicklung und Zukauf von KI-Kompetenzen ist komplex und muss für jede Ebene separat evaluiert werden.Dabei spielen strategische Bedeutung, verfügbare Ressourcen und zeitliche Anforderungen eine zentrale Rolle.
Die nachfolgenden Entscheidungskriterien sind entsprechend der jeweiligen Ebene zu berücksichtigen.
Basis-Ebenen (1-3): Interne Kernkompetenzen
Make:
- Systematische Schulung aller Mitarbeiter in KI-Grundlagen
- Aufbau von Prompt-Engineering-Expertise
- Entwicklung von CustomGPTs und Team-KI-Assistenten
Buy:
- Initiales Training durch externe Experten
- Best-Practice-Workshops
- Beratung bei ersten Implementierungen
Empfehlung: Primär interner Aufbau mit gezielter externer Unterstützung für schnellen Kompetenzaufbau
Fortgeschrittene Ebenen (4-7): Spezialisierte Expertise
Make:
- Nur bei strategischer Notwendigkeit
- Wenn KI zum Kerngeschäft gehört
- Bei hohen Sicherheits-/Compliance-Anforderungen
Buy:
- Spezialisierte Entwicklungspartner
- Cloud-Service-Provider
- KI-Plattform-Anbieter
Empfehlung: Der Fokus sollte auf „Buy“ liegen, während „Make“ nur in strategisch wichtigen Kernbereichen eingesetzt werden sollte.
Fazit
Der Aufbau von KI-Kompetenzen ist für Unternehmen keine Option, sondern eine strategische Notwendigkeit. Die vorgestellten sieben Ebenen bieten einen strukturierten Weg, diese Kompetenzen systematisch zu entwickeln. Dabei zeigt sich deutlich:
Die ersten drei Ebenen – von der grundlegenden KI-Nutzung über Prompt-Engineering bis hin zu CustomGPTs und Low-Code-Lösungen – sollten als interne Kernkompetenzen aufgebaut werden. Diese bilden das Fundament für alle weiteren KI-Aktivitäten im Unternehmen.
Für die höheren Ebenen empfiehlt sich dagegen meist eine Buy-Strategie, es sei denn, KI gehört zum strategischen Kerngeschäft.
Die Zeit des Experimentierens mit KI ist vorüber. Der Fokus liegt nun auf dem systematischen und strategisch durchdachten Aufbau von KI-Kompetenzen als Schlüsselfaktor für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen.